Presse

Der Standard, 17.10.2005

Ästhetischer Weltspiegel

Das zentrale Projekt des herbstes, Ablingers „Stadtoper Graz“, wurde dank seiner bestechend niveauhohen Realisierung zu einem eindrucksvollen Erfolg

Trennlinie
Graz – Eine Stadt als Opernheld. Das klingt befremdlich, aber auch sympathisch. In Zeiten, da Kunstprojekte, die was auf sich halten, mindestens ein paar Kontinente oder gleich die ganze Welt zum Thema machen, ist ein in sieben Teile aufgefächertes Projekt wie Peter Ablingers Stadtoper Graz, das nichts anderes als die steirische Landeshauptstadt fokussiert, geradezu bescheiden zu nennen.
Ablinger, der 46-jährige, in Berlin lebende Oberösterreicher, der bei Gösta Neuwirth und Roman Haubenstock-Ramati auch in die Disziplin des Kunstdenkens eingeführt wurde, schafft es mit seiner Stadtoper letztlich überzeugend, Graz und vor allem den akustischen Output der Stadt, zu einem ästhetisch reizvollen Hohl- und in gewissem Sinn freilich auch Rückspiegel des avancierten ästhetischen Weltwissens zu weiten.
Und dies gelingt ihm, obwohl er mit seiner Stadtoper alles eher wollte, als ein Werk schaffen, das dem traditionellen Theaterritual auch nur im Geringsten Genüge leistet. Denn nicht das Produkt ist sein Ziel, sondern, wenn man möchte, das Hirn und auch die Psyche des Publikums. Der Konsument soll sich selbst erleben und nicht das Werk. Was Ablinger vorführt, ist demgemäß kein Musiktheater, sondern dessen Anatomie. Seine einzelnen Organe werden zeitlich und räumlich getrennt präsentiert.
Eines dieser sieben opernanatomischen Präparate nennt sich etwa Das Libretto. Der Text von Yoko Kawada bleibt unaufgeführt und unvertont. Er existiert nur als Buch. Wer es liest, kann sich die Oper dazudenken. Ein anderes Segment nennt sich Die Bestuhlung und bestand darin, dass seit Monatsbeginn an den verschiedensten Orten von Graz sporadisch 36 Sessel aufgestellt wurden, auf denen die verdutzten Passanten an die auch beim herkömmlichen Musiktheater unvermeidlichen Tätigkeiten des Sichsetzens, des Sitzens und des Sicherhebens erinnert und in diese eingeübt werden sollten.
Kopftheater, könnte man sagen. Aber nicht nur. Die klingende Essenz dieser Stadtoper ist nämlich der so genannte Gesang. Sein Sänger ist übrigens zugleich auch sein Komponist und trägt den Namen Graz: Die Alltags- , Allmorgens- und Allabendsgeräusche, wie sie mit Autolärm, Satzfetzen von Passanten, Vogelstimmen und Fahrradgeklingel hörbar sind, wurden schon seit dem Vorjahr aufgezeichnet. Diese „labyrinthischen Stundenbücher“ konnte man ebenfalls seit Anfang Oktober im ESC-Labor von einem sauber mit Legenden auf Tischchen positionierten Walkman-Set abhören.

Live-Intervention
Am Freitag wurden diese akustischen Fotografien in der List-Halle gewissermaßen „handkoloriert“, das heißt, unter dem Titel Das Orchester mit Ablingers orchestralen Live-Interventionen vermischt. Am Anfang und am Ende dieser Klangmixtur stand jeweils eine Phase des „Weißen Rauschens“, in der sich eine Vielzahl akustischer Ereignisse zur Undifferenzierbarkeit addiert. Ein Nirwana, aus dem sich die, wohl elektronisch bearbeiteten, Gesänge der Stadt mit Ablingers flächigen Klängen zu immer neuen Gestalten konstituierten und zum Schluss wieder ins Nichts versinken.
Tags darauf kam auch Leben auf die über dem Podium der List-Halle postierten weißen Wände. Von Edgar Honetschläger sensibel gestaltete filmischen Städtebilder von Tokio, Brasília und Los Angeles ergaben die Lichtspielszenen, in die Ablinger mit zwei Pianolas und zwei Ensembles eine differenzierte, mitunter zu fast esoterischem Esprit neigende Begleitmusik integrierte. Das Publikum (so auch der Titel dieses Teil) reagierte wie am Vorabend animiert.
Erfreulich, dass die Überzeugungskraft des Projektes durch das Niveau der Ensembles (recreation unter der Leitung von Sian Edwards; Zeitfluss Graz unter Nassir Heidarjan und Edo Micic), aber auch die professionelle Organisation seitens des steirischen herbstes und der Grazer Oper bestens gefördert wurde.

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